Der Brief an die Hebräer

Für das verstehende Lesen dieses biblischen Buches bedarf es einer gehörigen Portion Aufmerksamkeit. Der Hebräerbrief listet in 13 gehaltvollen Kapiteln so viele Argumente und Querverweise auf, dass selbst Bibelkenner nicht schnell darüber hinweglesen können. Der Hebräerbrief erfordert viel Denkarbeit, um die aufgeführten Schlussfolgerungen nachvollziehen zu können. Inhaltlich befasst er sich mit der Warnung vor dem Rückfall in die Gesetzlichkeit des Judentums. Er stellt den so genannten Neuen Bund (also die Erlösung, Heiligung und Gnade durch Christus) als bessere Alternative in den Mittelpunkt seiner Argumentation. Die Leser werden zum Durchhalten angesichts bestehender und kommender Verfolgung ermutigt.

Empfänger waren offenbar Christen jüdischer Abstammung (so genannte Judenchristen) oder auch Menschen aus dem griechischen Kulturkreis, welche dem Judentum aber nahe standen. Für letzteres spricht, dass der Hebräerbrief auf hohem Sprachniveau in Griechisch niedergeschrieben wurde, wobei auch die Zitate aus dem Alten Testament vom Hebräischen ins Griechische übertragen wurden.

Die Vermutung, Judenchristen seien die Empfänger gewesen, stützt sich auf den Brieftitel selbst, der in keiner der überlieferten Handschriften fehlt. Eine andere Deutung geht allerdings davon aus, dass der Titel des Schreibens ein hebräisches Wortspiel darstellt und soviel bedeutet wie „an die Hinübergehenden“, im geistlichen Sinne also an Leute, die sich auf den Übergang vom weltlichen ins himmlische Reich vorbereiten. Insgesamt setzen die sehr komplexen Gedankengänge des Hebräerbriefes aber wohl Leser voraus, welche in jüdischer Glaubenstradition aufgewachsen und unterwiesen wurden.

 

Wer schrieb wann den Hebräerbrief?

Eine nicht ganz abwegige Vermutung lautet, der Hebräerbrief sei eigentlich eine lehrmäßige Abhandlung gewesen, die nachträglich in Briefform gebracht wurde (Epistel). Tatsächlich fehlen Absender, Empfänger und Einleitungsformel vollständig. Das Schreiben beginnt sofort mit theologischer Argumentation. Lediglich die letzten sechs Verse bilden eine Art Briefende. Während des gesamten Hebräerbriefes kommt es sehr selten zur direkten Ansprache der Leser, wie es in den Paulusbriefen so häufig zu beobachten ist. Die Annahme aus der frühkirchlichen Tradition, Paulus habe den Hebräerbrief geschrieben, dürfte daher kaum zutreffen.

Der Schreiber rechnet sich zur zweiten Generation der Christen, denn er verweist in Kapitel 2 auf jene, welche die Predigt des Herrn gehört und „bei uns bekräftigt haben“. Alternativ zu Paulus sind deshalb Lukas, Barnabas sowie Apollos als Verfasser im Gespräch. Dies wird gestützt durch zwei interessante Bemerkungen im Schlussteil:

  • Timotheus, ein enger Mitarbeiter des Paulus, der auch dessen Gefangenschaft in Rom teilweise miterlebte, sei wieder in Freiheit.
  • Es werden Grüße der Brüder aus Italien ausgerichtet.

Offenbar handelt es sich also um Männer aus dem Umfeld des Paulus, die dessen Zeit in Rom miterlebten. Einer von ihnen könnte den Brief also durchaus geschrieben haben. Die damit zusammenhängende Datierung des Hebräerbriefes wird durch folgende Angaben eingegrenzt:

  • Die bereits erwähnte Nennung von Timotheus und Italien, was auf eine Abfassung rund um die Gefangenschaft und den (vermutlichen) Märtyrertod des Paulus in Rom hindeutet.
  • Das Schreiben führt aus, die ersten Lehrer seien bereits tot (Kap. 13,7), ein Hinweis, dass bereits einige Jahrzehnte seit der Entstehung der Urgemeinde vergangenen sein dürften. Die Vertreter der ersten Generation sind altersbedingt oder aufgrund von Verfolgung kaum oder nicht mehr vorhanden.
  • Andererseits vergleicht der Hebräerbrief mehrfach die Erlösung durch Christus mit dem jüdischen Priesterdienst zur Sündenvergebung. Dieser fand im Jerusalemer Tempel statt, der im Jahr 70 zerstört wurde. (Einige Ausleger glauben jedoch, dieses Erwähnungen bezögen sich ganz allgemein auf den Priesterdienst, wie er bereits zur Zeit der Wüstenwanderung in der Stiftshütte abgehalten wurde.)
  • Der so genannte Clemensbrief, ein nichtbiblisches, seelsorgerisches Schreiben, dessen Text erhalten ist, nimmt Bezug auf den Hebräerbrief. Der Clemensbrief selbst wird auf 95 bis 100 n. Chr. datiert. Demzufolge muss der Hebräerbrief zu diesem Zeitpunkt bereits eine gewisse Verbreitung im Mittelmeerraum erfahren haben.

Es scheint somit naheliegend, dass der Hebräerbrief zwischen den Jahren 60 und 70 entstanden ist, wahrscheinlich zur Zeit der neronischen Christenverfolgung von 64 bis 68.